Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 1, Kapitel 55


Ankunft am alten Schloss des Esau. Szene zwischen dem Schloßherrn Jairuth, seinen Dienern und Jesus. Verlegenheit Jairuths. Sein vorsichtiges Raten über die Person Jesu.

01] Wir aber beginnen nun unsern Weg weiter fortzusetzen und kommen nach einer Stunde in einen reinen, schattigen Hain, der einem reichen Kaufmanne von Sichar gehörte. In diesem Haine sind allerlei Verzierungen angebracht, kleine Gärtchen, Bäche, Teiche mit allerlei Fischen und Vögeln; und am Ende des sehr gedehnten Hains befindet sich ein altes Schloß von großer Ausdehnung und hat starke Schutzmauern. Dieses Schloß hatte Esau erbaut, und er lebte daselbst, als Jakob in der Fremde war. In den Stürmen der Zeit hatte es natürlich viel gelitten; aber dieser Kaufmann hatte große Summen darauf verwendet und es wieder ganz bewohnbar hergestellt, und er wohnte mit all den Seinen auch häufig in diesem Schlosse und war auch diesmal allda wohnend. Er war zwar ein wohltätiger Mensch und hatte noch viele andere Güter, aber auf diese Besitzung hielt er viel und sah es ungern, so sein großer Hain von zu vielen Menschen betreten ward; denn er verwendete viel auf die Kultur desselben.

02] Als er nun aus seinem Schlosse ersah, dass eine große Volksmenge durch den Hain gegen die Schloßmauern sich bewegte, sandte er schnell seine vielen Diener und Knechte, dass sie uns aus dem Haine schaffen sollten, und ließ uns auch fragen, was wir da wollten.

03] Ich aber sagte zu den Knechten: »Geht hin zu eurem Herrn und sagt ihm: sein und euer Herr lasse ihm sagen, dass Er mit allen, die mit ihm sind, bei ihm einkehren und Mittag halten werde!«

04] Da kehren die Knechte und die Diener sogleich um und hinterbringen das ihrem Herrn. Dieser aber fragt sie, ob sie nicht wüßten, wer Ich, Der solches von ihm verlange, wäre. Die Knechte und Diener aber antworten und sagen: »Wir haben es dir ja ohnehin gesagt, wie er also zu uns geredet hat, dass er dein und unser Herr ist; was fragst du uns abermals?! Sieben königlich geschmückte Töchter begleiten ihn zunächst, und hinter diesen begleitet ihn eine unübersehbar große Schar! Am Ende ist er ein Fürst aus Rom, und es wird daher sehr geraten sein, ihm entgegenzueilen und ihn am großen Mauertore mit allen Ehren zu empfangen!«

05] Als der Kaufmann solches vernimmt, sagt er: »So bringt sogleich meine teuersten Festkleider, und das ganze Haus schmücke sich auf das festlichste! Denn ein solcher Fürst muß auf das glänzendste empfangen werden!«

06] Nun rennt alles sogleich durcheinander im ganzen Schloß, die Köche und Köchinnen rennen in die Speisekammern und bringen sogleich Massen von allerlei Speisen in die Küchen, und die Gärtner laufen in die großen Gärten, zu sammeln allerlei köstliches Obst.

07] Nach einer Weile kommt des Schlosses Herr, umgeben von hundert seiner vorzüglichsten Diener im glänzendsten Anzuge, verneigt sich, als er zu Mir kommt, nahe bis zur Erde dreimal und heißt Mich mit allen, die Mich begleiten, willkommen und dankt für die ihm erwiesene allerhöchste Gnade; denn er ist der Meinung, dass Ich im Ernste ein Fürst aus Rom sei.

08] Ich aber sehe ihn an und frage ihn: »Freund, was hältst du fürs Höchste, das ein Mensch auf der Erde bekleiden kann?«

09] Sagt der reiche Kaufmann: »Herr, vergib mir, deinem gehorsamsten Sklaven, ich war so dumm, nicht zu verstehen deine allererhabenst weiseste Frage; darum steige herab von der unermeßlichen Weisheitshöhe und wolle die Frage allergnädigst also stellen, dass sie meiner unbegrenzten Dummheit verständlich werde!« (Er hatte jedoch die Frage gar wohl verstanden; aber es war damals eine läppische Höflichkeitssitte, auch die leichteste Frage nicht sogleich zu verstehen, so man von einer hohen Person um etwas gefragt worden ist, um dadurch die Weisheit der hohen Person zu erhöhen.)

10] Ich aber sage zu ihm: »Freund, du hast Mich recht wohl verstanden und tuest also, als hättest du Mich nicht verstanden, nur der alten, jetzt aber schon gänzlich aus dem Kurs gekommenen Höflichkeit wegen. Laß sonach diese alte Läpperei beiseite und gib Mir Antwort auf Meine Frage!«

11] Sagt der Kaufmann: »Ja, so ich es wagen darf, auf deine hohe Frage, hoher Herr, sogleich zu antworten, so glaube ich mit deiner hohen Erlaubnis die hohe Frage wohl verstanden zu haben, und meine Antwort wäre demnach diese: dass ich als das Höchste ganz natürlich den Kaiser und dessen Amt als das allerhöchste ansehe und halte, das ein Mensch auf dieser Erde bekleidet.«

12] Sage Ich: »Aber Freund, warum widersprichst du dir denn gar so sehr in deinem Herzen gegen deinen eigenen Wahlspruch, der da sagt: 'Die Wahrheit ist das Höchste und Heiligste auf dieser Erde, und ein Beamter, der getreu das Amt der Wahrheit und des Rechtes versieht, bekleidet das höchste und erhabenste Amt auf Erden!' Siehe, das ist dein Wahlspruch! Wie magst du das Amt eines Kaisers, der nur das Amt der rohen Gewalt als höchster Befehlshaber versieht, das sich sicher nicht allzeit auf Wahrheit und Recht stützt, deiner inneren Überzeugung widersprechend, als das Höchste bekennen?!«

13] Hier macht der reiche Kaufmann große Augen und sagt nach einer Weile: »Herr, du Hoher! Wer verriet dir meinen Wahlspruch? Ich habe ihn noch nie ganz laut ausgesprochen, gedacht freilich tausend und abermals tausend Male! Denn wir wissen es nur zu gut, dass man mit der nackten Wahrheit nicht immer am besten darauskommt, und man muß mit derselben aus allerlei politischen Gründen schön fein zu Hause bleiben, so man unter Menschen mit heiler Haut herumgehen will!

14] Aber wie ich's nun merke, so scheinst du, hoher Fürstensohn, selbst ein großer Wahrheits- und Rechtsfreund zu sein, und so dürfte es vor dir doch geheuer sein, dir mit der lieben Wahrheit entgegenzutreten; denn recht große Herren wollen die Wahrheit niemals hören, halten darum die Schmeichelei in Ehren, die allein sie nur begehren, und alles Menschenrecht ist bei ihnen schlecht. Was sie wollen, sie sich's holen - mit Gewalt nur zu bald. Ob die Armen übers Unrecht klagen, jetzt wie einst in alten Tagen, das ist eins den großen Herren, die da stehn in hohen Ehren. Darum muß man wohl politisch sein und muß mit ihnen reden fein, sonsten gibt es Kerker und Galeeren, die der Menschen Qual und Pein vermehren.«

15] Sage Ich: »Hast gut und wahr geredet! Ich bin darin ganz deiner Ansicht; aber nun sage es Mir, für wen du Mich so ganz eigentlich hältst!«

16] Sagt der Kaufmann: »Herr! Das ist eine sehr kitzlige Frage. Sage ich zuviel, so werde ich offenbar ausgelacht; sage ich aber zuwenig, dann komme ich ins Loch! Daher wird es besser sein, schön fein hier die Antwort schuldig zu bleiben, als sich für die Antwort nachher im Kerker mit Qual und Pein die Zeit zu vertreiben!«

17] Sage Ich: »So Ich dir aber die Versicherung gebe, dass du weder das eine noch das andere zu befürchten haben sollst, so wirst du Mir wohl antworten können?! Sage es daher gerade heraus, für wen du Mich hältst!«

18] Sagt der Kaufmann: »Für einen Fürsten aus Rom, - so ich schon reden muß!«

19] Sagt hinter Mir der Jonael: »Das dürfte wohl viel zu wenig sein! Wirst schon einmal etwas höher raten müssen; mit dem Fürsten wird es sich nicht tun!«

20] Der Kaufmann erschrickt und sagt: »Am Ende ist es der Kaiser selbst?!«

21] Sagt Jonael: »Noch immer viel zu wenig; daher rate höher!«

22] Sagt der Kaufmann: »Das werde ich wohl bleibenlassen; denn über einem Kaiser von Rom gibt es nichts Höheres mehr!«

23] Sagt Jonael: »Und doch! Noch gar viel Höheres gibt es; denke nach und sage es nur rund heraus! Denn ich sehe dir ja ins Herz, das bei dir dem Kaiser von Rom den niedersten Platz anweist; warum sprichst du denn anders, als wie du denkst und fühlst in deinem Herzen? Rede also die Wahrheit!«



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