Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 4, Kapitel 148


Der tödliche Fall des neugierigen Knaben.

01] Sage Ich: ”Wenn also, da mußt du uns schon noch den Sterbefall erzählen von einem Knaben, der von einem Baume herabfiel und bald darauf verschied, und zugleich aber auch jenen eines Menschen, der sich selbst in einen Teich stürzte und ertrank und somit einen Selbstmord beging. Fasse dich aber kurz und gib uns nur die Hauptmomente kund!“

02] Mathael begann sogleich zu reden und sagte: ”Nur um eine kleine Geduld bitte ich; denn ich möchte die beiden Fälle auf einmal zusammen erzählen und muß mich darum zuvor ein wenig fassen!“

03] Sagte Ich: ”Tue das; Ich aber werde dir schon die rechte Art und Weise in den Mund legen, und es wird auch ohne eine Vorfassung gehen!“

04] Sagte darauf Mathael: ”Ja, wenn also, dann werde ich mich freilich nicht lange zu fassen nötig haben und werde darum alsogleich die mir noch sehr wohl im Gedächtnisse haftenden beiden Begebenheiten so treu und wahr als mir nur immer möglich erzählen!“

05] Sagen alle laut: ”Nun, hoher Vizekönig der Völker um den weiten Pontus bis an das Kaspische Meer, freuen wir uns alle ganz besonders auf deine Erzählungen; denn im Erzählen bist du wahrlich ein unübertrefflicher Meister!“

06] Sagt Mathael: ”Zum Erzählen gehört vor allem eine kleine Sprachkundigkeit und eine große Wahrheitsliebe. Wer wahr erzählt, hat immer einen Vorzug vor einem Fabeldichter! Doch sei dem nun, wie ihm wolle; was ich euch nach dem Wunsche des Herrn zu erzählen habe, ist eine von mir erlebte Geschichte, wie ich deren von der Wiege an bis in mein zwanzigstes Jahr viele erlebt habe. Ich werde sie euch mit der Zunge geben, wie ich sie in meinem siebzehnten Lebensjahre erlebt habe an der Seite meines stets um mich seienden, durch meine Gesichte schon ganz weise gewordenen Vaters. Die beiden Geschichten aber lauten also:

07] Es war um die Zeit der allgemeinen Judenreinigung, wo - wie bekannt - am Jordanflusse der Sündenbock für alle Judensünden geschlachtet und geopfert und am Ende unter allerlei Geplärr und Gebetsformeln und Verfluchungen in den lieben Jordanfluß geworfen wird. Nun, darüber noch ein Wort mehr zu verlieren, wäre ein eitles und wertloses Geplauder, da derlei Zeremonie jedem noch so geringen Juden nur zu bekannt ist.

08] Weniger bekannt aber dürfte euch sein, dass damals bei dem erwähnten Sündenbocksopferfeste eine übergroße Volksmenge sich eingefunden hatte. Griechen, Römer, Ägypter und Perser waren zahlreich vertreten. Kurz, an Neugierigen gab es keinen Mangel!

09] dass die Knaben von dem Schauspiele doch auch etwas sehen wollten, wird euch begreiflich sein. dass sie aber wenig sehen konnten über die großen Leute hinweg, das wird euch auch begreiflich sein, und auch begreiflich, dass die Neugierde die nichtssehenden Knaben auf die nahestehenden Bäume trieb. Es dauerte gar nicht lange, als den vielen Knaben am Ende der gastlichen Bäume zu wenig wurden und sie sich auf den Ästen zu zanken begannen. Sie wurden wohl zu öfteren Malen zur Ruhe gewiesen, aber es halfen diese gutgemeinten Zurechtweisungen wenig oder auch gar nichts.

10] Ich und mein Vater saßen auf unseren Kamelen, die wir von einem Perser, den mein Vater von einer bösen Krankheit geheilt hatte, zum Geschenk erhielten; es waren beide Doppelhöcker und sonach zum Reiten um vieles bequemer denn die Einhöcker. Wir übersahen darum auch ganz bequem die ganze Geschichte. Unfern von unserem Standpunkte stand eine recht schöne und hohe Zypresse, auf deren schon von Natur aus eben nicht zu kräftigen Ästen sich drei Knaben zankten. Jeder war bemüht, sein Gewicht möglichst dem stärksten Aste anzuvertrauen.

11] Da aber dieser schon sehr bejahrte Baum eigentlich nur zwei Äste von einer noch derart soliden Stärke besaß, dass man ihnen sein Leben anvertrauen konnte, so stritten sich die drei Knaben um den Besitz der zwei stärkeren Äste, und ein dritter war genötigt, sich mit einem eigentlich mehr Zweige als Aste zu begnügen. In einer Höhe von immerhin gut fünf Mannslängen kauerte der dritte auf seinem Aste, der mehr ein Zweig denn ein Ast war.

12] Es ging aber die Sache eine Stunde nun leidentlich, bis sich gen Mittag hin ein ziemlich starker Wind erhob, der den Gipfel unserer Zypresse in ein recht bedenkliches Schwanken brachte und den Rauch vom stark dampfenden Opferaltare gerade diesen drei Knaben so recht armdick ins Gesicht trieb, dass sie die Augen zuhalten mußten, um nicht einen förmlichen Strom von Tränen umsonst zu vergießen.

13] In dieser höchst bedenklichen Stellung betrachtete ich mir den auf dem schwachen Zweigaste kauernden Knaben. Als der Rauch so recht, man könnte sagen, pfundschwer, ihm ins Gesicht getrieben ward, da bemerkte ich auf einmal zwei große Fledermäuse um seinen Kopf herumschwirren. Sie hatten die Größe von zwei ganz ausgewachsenen Tauben und trieben dem armen Kerl noch mehr Rauch ins Gesicht.

14] Ich machte hier meinen Vater aufmerksam und sagte zu ihm, dass hier sicher ehestens etwas Unangenehmes vor sich gehen werde. Ich sagte ihm auch, was ich sah, und dass mir die beiden Fledermäuse gar nicht natürlich vorkämen, und zwar aus dem Grunde, weil sie sich bald vergrößerten und bald wieder verkleinerten.

15] Der Vater lenkte sein Kamel, auf dem er saß, an den Baum und rief dem Knaben auf dem Baume zu, dass er vom Baume eiligst herabsteigen solle, ansonst er ein Unglück haben werde. Ob der Knabe meines Vaters ziemlich laut gesprochene Worte vernommen hatte oder nicht, weiß ich kaum als eine Wahrheit zu bezeichnen; denn ich bemerkte nur stets das frühere Schauspiel, und wie der sehr bedenklich auf dem Zweige kauernde Knabe sich stets mehr und mehr mit der Hand die vom dicken Rauche beleidigten Augen auszuwischen begann und nahe halbblind sein mußte.

16] Da der Vater aber sah, dass sein warnendes Rufen an den Knaben total ohne Wirkung blieb, so entfernte er sich wieder vom bedenklichen Baume, kam wieder zu mir und fragte mich, ob ich noch das Gesicht habe. Ich bejahte die Frage der vollen Wahrheit gemäß und beteuerte, dass der Knabe, wenn er nicht sogleich vom Baume entfernt würde, ein unvermeidbares Unglück werde erleiden müssen. Sagte der Vater: "Ja, mein Sohn, was läßt sich da machen?! Eine Leiter haben wir nicht, und aufs Zurufen verläßt der Knabe den Baum nicht; man ist darum genötigt abzuwarten, was Gott der Herr über diesen ungehorsamen Knaben wird kommen lassen."

17] Mein Vater hatte gerade das letzte Wort ausgesprochen, als der schwache Ast, durch die stetige Bewegung des Knaben zu oft und zu sehr hin und her und auf und ab gebogen, brach, der Knabe, natürlich nun ganz stützlos, die Höhe von stark fünf Mannslängen häuptlings auf einen unter dem Baume befindlichen Stein mit aller Gewalt auffiel, sich die Hirnschale einschlug, das Genick brach und somit auch gleich tot liegenblieb.

18] Darüber entstand im Volke ein Spektakel; alles drängte sich hin zu dem verunglückten Knaben. Was half aber das nun, da der Knabe einmal tot war?! Die römischen Wachen trieben endlich das Volk auseinander, und es ward sogleich mein wohlbekannter Vater berufen, den Knaben zu untersuchen, ob er wirklich tot sei, oder ob an ihm etwa noch Wiederbelebungsversuche mit Erfolg angewendet werden könnten. Mein Vater befühlte des Knaben zerschmettertes Haupt und dessen Genick und sagte: "Da hilft kein Kraut und keine Salbe mehr! Denn dieser ist nicht nur einfach, sondern zweifach tot und wird in dieser Welt nimmer lebend werden!"“



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