Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 5, Kapitel 38


Zweck der Bußwerke in Indien.

01] Sagt Raphael: ”Du warst wohl in Indien und hast so manche Mißbräuche gesehen, namentlich die starken Bußen. Es ist so etwas für den puren Verstandesmenschen eine offenbare Narrheit, verbunden mit wenigstens einer scheinbar grausamen Willkür der dortigen Priesterkaste. Allein dem ist doch nicht ganz also, wie es gerade den Anschein hat. Dieses Volk lebt in einem Lande, das auf der Erde die größte Vegetationsfähigkeit besitzt für Pflanzen sowohl als für Tiere und Menschen. Gehe du in diesem Lande in die Wälder der Berge, und du wirst tagelang umhergehen können, um auf einem noch so alten Baume auch nur ein dürres Zweiglein zu finden, und brichst du von einem Baume einen Zweig ab und legst ihn ganz frei und offen irgend sogar auf sandigen Boden hin, so kannst du nach einem Jahre kommen, und du wirst den Zweig sicher noch ganz grün antreffen, ja sehr oft sogar mit neu ins Erdreich getriebenen Wurzeln.

02] Also ist die Lebensfähigkeit, besonders in den Mittelgebirgsregionen, sowohl bei den Pflanzen wie bei den Tieren eine übergroße. Man kann dort einem Tiere oder auch einem Menschen schon eine bedeutende Wunde beibringen, und es wird diese eben keine so großen Schmerzen verursachen, weil die sie deckende Luft dort schon heilsamer wirkt als hier das heilsamste Pflaster. Versetzt dir hier jemand einen Schlag mit einem Stocke oder mit einer Rute, so wird es dich etliche Tage lang schmerzen; dort kannst du dir tausend Rutenstreiche geben lassen, und du fühlst kaum einen Streich bis zum nächsten. Versuche dir hier einen Nagel ins Fleisch zu stecken, so wirst du schon einen Schmerz fühlen, der unerträglich wird! Du wirst geschwollen werden, eine brennendste Entzündung, ja sogar ein tödlicher Brand kann hinzutreten, oder die Wunde wird zu eitern anfangen und dir unsägliche Schmerzen verursachen; in den vorgenannten Gebieten Indiens gar nicht! Jahrelang kannst du mit einem ins Fleisch gesteckten Nagel umhergehen, so wirst du davon nahe gar keinen Schmerz bald nach dem Hineinstecken mehr wahrnehmen, weil die Luft dort so balsamisch heilsam ist, daß bei Verwundungen nahe gar nie eine Entzündung entstehen kann. Entsteht diese aber nicht, so ist von einem Schmerze, am wenigsten von einem unerträglichen, schon gar keine Rede.

03] Zugleich aber sind dort die Menschen, weil von zu viel Naturlebenselementen beseelt, immer sehr aufgeregt und würden besonders in der Sphäre des Begattungstriebes in Ausartungen übergehen, die ihresgleichen auf der Erde nicht hätten. Die scharfen Bußwerke halten sie am meisten davon ab. Durch die starken Kasteiungen wird ihr Fleisch gewisserart abgetötet, und dazu bewegt sie die ihnen stark eingeprägte Furcht vor dem Feuer der Hölle, das ihnen von den Priestern auf eine so lebendige Weise als nur immer möglich vorgemalt wird, daß es sie schon durch die Beschreibung ordentlich zu brennen anfängt; denn das Feuer fürchtet der Indier am meisten, weil ihm dieses schon hier den größten Schmerz bereitet, den sein Fleisch zu empfinden fähig ist. Durch die scharfen Bußwerke, die Gott der Herr bis jetzt und noch für länger hin bei den Indiern zuläßt und duldet, wird doch die Seele dieser Menschen erhalten in ihrer Menschenlebensform und ist dann fürs ewige Jenseits fähig, in eine höhere Lebensvollendung überzugehen.

04] Du wirst mir dagegen freilich einwenden und sagen: "Man lasse dies Volk nur recht wissenschaftlich bilden, und es wird dann etwa sicher nicht in alle möglichen Unzuchtsausartungen übergehen!" - Tut's nicht, mein schätzbarster Freund, trotz deiner noch so reinen Vernunft! Völkern, bei denen die Phantasie von Natur aus zu geweckt ist, ist die Wissenschaft ein wahres Lebensgift! Nehmen wir an, die phantasiereichen und einbildungskräftigen Indier besäßen die Wissenschaften Griechenlands, Roms und Alexandriens, so wäre die ganze Erde nicht sicher vor ihnen! Ihnen würden allerlei Künste und Wissenschaften nur die Mittel in die Hände liefern, eines der furchtbarsten und entartetsten Völker der Erde zu werden; denn sie würden bald Dinge ans Tageslicht fördern, die alles, was einst Babylon und Ninive und ganz Ägypten, Athen und Rom gemacht haben, im höchsten Grade überbieten würden. Die Berge würden ihrem Mutwillen weichen müssen, Städte würden sie erbauen, die gleich über ganze fruchtbarste Länder reichten, Flüsse und Ströme würden sie eindämmen, auf daß dann ungeheure Seen entstünden. Kurz und gut, die in alle Wissenschaften eingeweihten Indier würden zu einem fürchterlichsten Volke der ganzen Erde, wenn sie jetzt auch ein noch so sanftmütiges Gemüt und Gesicht besitzen!“



Home  |    Inhaltsverzeichnis Band 5  |   Werke Lorbers