Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 6, Kapitel 137


Der Besuch im Tempel der Weisheit.

01] Nun kam der Hauptmann samt dem Zöllner zu Mir und entschuldigte seine kurze Abwesenheit durch die notwendige Erfüllung seiner Amts- und Standespflichten. Und ebendasselbe tat auch der Zöllner; darauf aber lud er uns zum Morgenmahle bei sich, und da der Hauptmann für diesen Tag auch sein Gast sein wollte, so willigte Ich denn auch ein, und wir gingen in das sehr geräumige Haus des Zöllners, von dem die am Abende angekommene Handelskarawane gerade um eine Stunde früher abgezogen war. Allda nahmen wir das ganz gut bereitete Morgenmahl ein, und die Jünger unterrichteten darauf die Priester in Meiner Lehre und zeigten ihnen den eigentlichen Grund an, warum Ich so ganz eigentlich in die Welt gekommen bin.

02] Ich Selbst unterrichtete den Hauptmann und seinen Sohn, die alles, was sie vernahmen, mit der größten Freude und mit dem festesten Glauben annahmen. Und so verging mit guten Reden und Werken auch dieser Tag, und Ich beschied noch einmal die Priester nach Chotinodora, was zu tun sie feierlichst versprachen. Darauf begaben wir uns zur Ruhe und reisten am frühen Morgen, vom Hauptmanne und seinem geheilten Sohne begleitet und von dem Zöllner vielmals begrüßt, zu Wasser nach der bedeutenden alten Stadt Serrhe ab.

03] Allda angelangt, führte uns der Hauptmann schnell zu seiner Familie hin, die da bei einem dem Hauptmanne nahe verwandten Obersten wohnte, bei dem sie auf Besuch war. Wie groß da der Hauptmännin Freude war, als sie ihren schon totgeglaubten Sohn ganz gesund ersah, das kann sich wohl ein jeder leicht von selbst denken, und es bedarf da keiner näheren Beschreibung.

04] Da wir in dieser Stadt schon ziemlich spät am Abend ankamen, so machte unsere zahlreiche Ankunft beinahe gar kein Aufsehen in der Stadt. Wir nahmen die freundlichst angebotene Herberge beim Obersten an, wo wir, mit allem wohl versorgt, uns bei fünf Tage lang aufhielten.

05] Unfern dieser Stadt auf einem mäßig hohen Hügel stand ein Tempel, der allein der Weisheit geweiht war. In diesem Tempel war kein Götzenbild aufgerichtet, sondern auf einem Altare lagen allerlei Bücher und uralte Schriften. Darin standen allerlei weise Denksprüche und so manche Prophezeiungen aus den ältesten Zeiten.

06] Am vierten Tage besuchten wir diesen Tempel und seine drei alten Priester. Wir waren unser an vierhundert an der Zahl, da uns viele aus der Stadt folgten; denn wir hatten allda allerlei Kranke geheilt, Blinde sehend und Taube hörend gemacht, und viele nahmen die Lehre an und wandelten fortan nach ihren Lebensgrundsätzen.

07] Als wir bei dem Tempel ankamen und die drei Priester des römischen Obersten ansichtig wurden, da kamen sie aus dem sonst zumeist verschlossenen Tempel zum Vorscheine und fragten den Obersten in der tiefsten Ehrfurcht, was etwa in dieser ungewöhnlichen Zeit sein Verlangen wäre.

08] Der Obreste aber deutete auf Mich und sagte: ”Dieser Erste und Höchste aller Ersten und Höchsten ist gekommen und will euren Weisheitstempel sehen und besehen seine Schriften. Darum öffnet das Tür und lasst uns eintreten in seine geheiligten Hallen!“

09] Sagten die Priester: ”Es ist uns dieses dein Verlangen wohl sehr zur Unzeit gekommen, aber weil du es gebietest, so tun wir es; aber du selbst mußt die Verantwortung, sogar gegenüber den strengen und unerbittlichen Göttern, auf dich allein nehmen!“

10] Sagte der Oberste: ”Ja, ja, das tue ich ohne weiteres; denn ich selbst muß mich ja überzeugen, ob das wohl in eurem ältesten Weisheitsbuche also steht, wie dieser allerweiseste und mit aller Macht der Götter begabte Mann es mir erzählt hat.“

11] Nun erst willigten die drei Priester völlig ein und öffneten nach einigen Bücklingen vor dem Tempel das Tor, das eben nicht zu den größten zu zählen war. Wir gingen nun hinein, und die Priester zogen unter dem Altare ein altes Buch hervor, das in altindischer Sprache geschrieben war; nur einer von ihnen konnte es lesen und halbwegs verstehen.

12] Ich Selbst aber zeigte ihm die Stelle an, die er lesen und dann verdolmetschen solle.

13] Er besah sich die Stelle wohl, überlas sie und verdolmetschte sie dann also (der Priester): ”Aus den Bergen, wo die Dohlen (Kauka) nisten in großen Scharen, ein Strom entspringet, der da fließet mächtig, breit und weit. An seinen Ufern sah ich Städte groß und klein, und er trägt auf seinem breiten Rücken der Lasten viele. Aber siehe da, eine Last sah ich schwimmen auf seinem Rücken, - da lag eine schwere Nacht in der ganzen, weiten Gegend vom Anfange des Stromes bis dahin, da er endet in das große Weltmeer. Aber die Last trug einen Menschen, dessen Angesicht mehr leuchtete als die Sonne, und aus seinem Munde schossen flammende Pfeile und Schwerter. Am Ufer aber lagen viele Tote, und die von den Pfeilen aus seinem Munde getroffen wurden, die fingen an sich zu regen, wurden lebendig, und es ward voller Tag um sie. Aber die Last trug noch mehrere Menschen, die lebten und hatten auch ein Licht in sich und leuchteten wie der Vollmond. Auch aus ihrem Munde ging ein Licht, das da glich dem Lichte des Morgensterns, und die, welche von dem Lichte berührt wurden, obschon sie früher tot waren, wurden wieder lebendig und wandelten darauf wie am hellen Tage. Das aber bewirkte, daß bald darauf der ganze Strom zu Licht wurde. Als der ganze Strom leuchtete, da ward es fröhlich an seinen Ufern, und viele eilten hin und wuschen ihr Antlitz, und sieh, da leuchteten alle, die in den Strom stiegen und sich reinigten in seiner hellen Flut!

14] Aber ich sah den Strom nachher wieder und sah kein Licht mehr, sondern es rastete abermals die schwerste Nacht über seinem Rücken, und ich sah lange also, und sieh, es wollte nimmerdar licht werden! Und ich hörte eine Stimme wie das Rauschen vieler Winde durch ein dürres Gehölz, und die Stimme sprach: "Wehe dir, du Nachtbringer, wenn Ich wiederkommen werde! Dich wird Mein Gericht zwiefach hart treffen; denn du warst Licht und bist abermals zu Nacht geworden! Ich sage es dir also, und sage es du abermals deinen Würmern! Also will es der Erste und der Letzte, das Alpha und das Omega!"“

15] Hierauf verneigte sich der Priester abermals tief vor seinem Buche und legte es, in feinste Linnen gehüllt, wieder an seinen früheren Ort.

16] Darauf sagte der Oberste zu ihm: ”Verstehest du auch das, was du ganz gut gelesen hast?“

17] Sagte der Priester: ”Herr, so ich das verstünde, da säße ich zu Delphi auf Pythias Dreifuß!“

18] Sagte der Oberste: ”Sieh, was du nicht verstehst, das verstehe ich als ein Soldat nun sehr wohl und kann es dir erläutern! Sieh, hier steht der Mann, der aus den Himmeln zu uns Menschen gekommen ist und nun das Licht verbreitet von Melitene bis hierher nach Serrhe! Den hört, und ihr nun Tote werdet lebend werden und im hellsten Lichte schauen euer Heil! Diese anderen Männer aber, die mit Ihm kamen, sind eben dieselben, deren Antlitz da leuchtete gleich dem Vollmonde. Ihre Worte sind ein wahrer Lebensmorgenstern, und die sie annehmen, leuchten dann in ihrem Gemüte voll Leben eben also wie ihre Worte, die unter dem Bilde des Morgensterns in eurem Weisheitsbuche angedeutet sind. Versteht nun, um welche Zeit es nun ist!“

19] Da staunten die Priester über die Weisheit des Obersten und fragten ihn mit großer Ehrerbietung, wer und von woher Ich denn sei.

20] Sagte der Oberste: ”Ich habe es euch ja ohnehin schon gesagt, von woher dieser Gottmensch ist; wisst ihr aber das, so wisst ihr ja ohnehin, was ihr zu tun habt. Seht nun zu, daß auch ihr von Ihm lebendig gemacht werdet, auf daß ihr dann auch leuchten könnt vor allen Menschen, die da zu euch kommen werden, um sich bei euch die rechte Weisheit des Lebens der Seele zu holen!“

21] Darauf kam einer der Priester zu Mir und sagte: ”Hoher aus den lichten Höhen der Himmel, gib uns die rechte Weisheit!“

22] Sagte Ich: ”Da stehen Meine Jünger; an diese wendet euch, und sie werden euch den Weg zeigen, auf dem wandelnd und handelnd ihr zur rechten und wahren Weisheit gelangen könnt, - aber nicht hier in diesem Tempel, sondern im Hause des Obersten in der Stadt! Da kommt hin und lasst euch unterrichten!“

23] Sagte der Priester: ”O Hoher, das ist für uns eine sehr schwere Sache, da wir uns eigentlich nach unserer Regel nie von dieser Weisheitshöhe in die tiefe Ebene hinabbegeben sollen! Denn symbolisch wohnt die Weisheit beständig nur auf der reinen Höhe und senkt sich niemals in die schmutzige Tiefe hinab, gleichwie auch der Verstand jedes Menschen in seinem Haupte als dem höchsten Teile seines Leibes wohnt.“

24] Sagte Ich: ”Wenn das also recht wäre, da hätte Ich der Himmel lichte und höchste Weisheitshöhen auch nie verlassen sollen! So ich aber das euch Menschen zuliebe getan habe, da werdet wohl auch ihr diese eure nichtige Weisheitshöhe einmal in eurem Leben einer höheren Weisheit wegen verlassen können; denn um das Höchste zu erlangen, lohnt es sich wohl der Mühe, solch einen Hügel zu verlassen. Von nun an wird ein jeder in die eigene Demutstiefe steigen müssen, so er zur wahren Lebensweisheit wird gelangen wollen.“

25] Als der eine Priester solches von Mir vernommen hatte, da ging er hin zu seinen zwei Mitpriestern und sagte ihnen das von Mir Vernommene. Diese machten anfangs wohl sehr bedenkliche Mienen, - aber nach einer reiflicheren Überlegung willigten sie doch ein, traten dann zum Obersten hin und baten ihn um die Gewährung, sein Haus betreten zu dürfen, weil Ich das so haben wolle.

26] Da sagte der Oberste: ”Das freut mich sogar sehr! kommt nun nur gleich mit - denn wir werden uns sogleich auf den Rückweg machen -, und seid heute und morgen meine Gäste, weil dieser hohe Mann aller Männer der ganzen Erde auch noch morgen bei mir allergnädigst verweilet!“

27] Da dankten die Priester und machten sich sogleich mit uns auf den Weg; nur gaben sie ihren Weibern und Kindern zuvor noch die Weisung, was sie unterdessen zu tun und zu reden haben sollten, so da ein Weisheitsforscher ankäme während der Zeit, da sie aus sein würden.



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