Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 7


11. Kapitel: Das Urteil des Römers Agrikola.

01] Als der Tempeloberste solches Urteil über sich aus dem Munde des ehrlichen, armen Vaters vernommen hatte, brach er in Tränen aus und sagte: »O großer Gott, wie gut sind deine wahren Kinder, und wie entsetzlich schlecht sind wir als eine wahrhafte Schlangenbrut der Hölle! O Gott, strafe mich ganz nach meinem bösesten Verdienste!«

02] Sagte Agrikola: »So dich diese nicht gerichtet haben, die dazu das eigentliche Recht hätten, so richte auch ich dich nicht; aber darum habe ich den Richter kommen lassen, daß er es dir und dem ganzen Tempel strengstens untersage, je ein Todesurteil über jemand zu verhängen; - ansonst bist du und der ganze Tempel nicht straffrei. Diese Häscher und Schergen aber sollen für ihren freien Mutwillen mit diesem Armen jeglicher mit hundert Rutenhieben gezüchtigt werden, damit auch sie fühlen, wie wohl ein solch unmenschlicher Mutwille einem Armen tut. Die Soldaten mögen sie sogleich ins Zuchthaus bringen und sie stäupen! Es geschehe!«

03] Nun fingen diese (die Häscher und die Schergen) an zu heulen und zu bitten.

04] Sagte Agrikola: »Hat euch dieser Arme nicht auch gebeten, daß ihr ihn nicht also mißhandeln sollt, - und ihr achtetet nicht seines Flehens, da euch doch nur befohlen ward, ihn zu bewachen? Daher, weil ihr etwas getan habt, wozu ihr nicht einmal ein scheinbares Recht hattet, wird euch auch nicht ein einziger Rutenhieb erlassen, sondern den Peinigern noch streng bedeutet, daß ein jeder Hieb mit der größten Schärfe geführt wird. Und nun weiter; denn für euch gibt es weder bei Gott und noch weniger bei mir ein Erbarmen!«

05] Hier umschlossen die Krieger die im ganzen fünfzehn Tempelhäscher und Schergen und stießen sie vor sich her.

06] Der Tempeloberste aber fragte mit zitternder Ehrfurcht den Römer, sagend: »Hoher und mächtiger Gebieter! Was soll ich denn nun eigentlich mit diesem Richter abmachen?«

07] Sagte Agrikola: »Das habe ich dir schon angezeigt; so du es aber noch nicht begriffen hast, da sage ich es dir noch einmal: Du gehst mit dem Richter ins Amthaus und wirst dort von ihm eine wohlgemessene Weisung erhalten, wie sich der Tempel in aller Zukunft mit seinen Mosaischen Strafen zu verhalten hat! Jede Übertretung solch einer Weisung wird von Rom aus auf das schärfste geahndet werden! Mit solch einer von Pilatus auf meinen Befehl unterfertigten Weisung begibst du dich dann in den Tempel und machst sie kund!«.

08] Sagte der Oberste: »Was soll ich aber dem Pilatus sagen, so er mich näher um dich fragen möchte?«

09] Sagte Agrikola: »Das wird Pilatus nicht tun, da ich schon vor ein paar Tagen bei ihm war, er mich nur zu gut kennt und wohl weiß, warum ich nun diese unsere Länder im Namen des Kaisers bereise. Und nun magst auch du gehen!«

10] Hier verbeugten sich der Richter und der Oberste tief vor Agrikola, und der Richter ermahnte den Obersten, ihm zu folgen.

11] Aber der Oberste sagte: »Nur eine Frage an den Gesandten des Kaisers laß mich noch stellen!«

12] Sagte der Richter: »So frage eilig; denn wir Richter haben in dieser Zeit wenig Weile!«

13] Hierauf wandte sich der Oberste nochmals an Agrikola und sagte: »Mächtiger Gesandter des Kaisers! Siehe, ich bin sehr reich, und es ekelt mich vor meinen Schätzen! Da ich aber dieser armen Familie ein gar so himmelschreiendes Unrecht zugefügt habe, so möchte ich durch die vollkommenste Abtretung aller meiner Schätze an sie dieses Unrecht an ihr nach aller Möglichkeit sühnen. Dürfte ich nun bei diesem Richter unter einem einen

Schenkbrief ausfertigen lassen und solchen ihr dann samt allen meinen Schätzen einhändigen, auf daß sie dann niemand fragen kann, woher sie solche erhalten hat?«

14] Sagte Agrikola: »Du wirst der armen Familien noch in großer Menge finden, an denen du die langversäumten Werke der Nächstenliebe üben kannst; doch diese arme Familie ist schon so gut wie allerbestens versorgt. Und somit kannst du nun schon gehen! Tue in der Folge recht und fürchte Gott, so wirst du zu keiner solchen Begegnung mehr gelangen! Es sei!«

15] Hierauf verneigten sich die beiden nochmals und gingen von dannen.

16] Wir aber kehrten mit der geretteten Familie wieder zu den Unseren zurück, die schon voll Neugierde harrten, um zu erfahren, was sich da alles zugetragen hatte. Denn sie waren von uns so weit entfernt, daß sie uns wohl noch sehen, aber von all dem Vorgegangenen nichts vernehmen konnten. Auch unser Sklavenhändler Hibram hatte sich mit seinen Gefährten vorgedrängt, um zu erfahren, was etwa da vorgefallen sei.

17] Aber Ich sagte zu Lazarus: »Freund, nun ist vor allem nötig, diesen vieren eine Leibesstärkung zu verschaffen, - alles andere werden wir dann schon oben besprechen; denn diese haben nun schon über zwei Tage lang nichts gegessen. Die beiden Alten waren sehr krank und schwach, doch sie sind geheilt. Dieser sonst kräftige jüngere und sehr mißhandelt aussehende Mensch ist eben derjenige, der da hätte gesteinigt werden sollen, und diese gar liebliche Jungfrau ist seine Schwester, und beide sind Kinder dieses armen, aber ehrlichen Elternpaares. Und nun weißt du schon, mit wem du es zu tun hast!«

18] Sagte auch Agrikola: »Und was sie verzehren werden, solange ich mich hier aufhalten werde, das kommt auf meine Rechnung, so wie ich auch wünsche, daß sie an meinem Tische bestens verpflegt werden sollen! Hierauf nehme ich sie ohnehin mit nach Rom. Also werde ich auch die Sklaven alle auf meine Rechnung nehmen und werde fortan für ihr gutes Fortkommen in natürlicher und geistiger Hinsicht alle meine Sorge aufbieten!«

19] Sagte Lazarus: »Freund, einige aber möchte wohl auch ich behalten; denn sieh, ich habe weder ein Weib noch Kinder und möchte wohl auch etliche an Kindesstelle aufnehmen!«

20] Sagte Agrikola: »Das steht dir ganz frei; so viele du willst, überlasse ich dir gerne!«

21] Damit war Lazarus ganz zufrieden, und wir traten den Weg auf den Berg an und waren auch bald an Ort und Stelle.



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