Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Supplemente S. 255


01] Es ist wohl wahr, daß zu den Alten durch Mose gesagt wurde: Auge um Auge, Zahn um Zahn! und wer einen totschlägt, der solle auch wieder durch den Tod bestraft werden; aber unter Euch, Meinen Jüngern, soll es anders sein.« Und eben da habe Ich das Beispiel von dem Backenstreiche und von dem Streite über den rechtmäßigen Besitz eines Rockes gegeben, das freilich wohl nicht ganz richtig niedergeschrieben wurde und dazu kamen noch die ungenauen Übersetzungen von der hebräischen Sprache in die griechische, von der in die römische, und lange darauf von den drei erstgenannten Sprachen erst in die deutsche, die in der Übersetzungszeit noch sehr wortarm war und für manchen Ausdruck in den drei Sprachen nicht ein Wort hatte, um ihn richtig zu geben.

02] Und es sollen demnach diese Verse genauer also lauten: a »So du mit einem Bruder oder Nachbarn einer kleinen Sache wegen in einen Streit geraten bist und er schlagheftig dir entgegentritt, so werde du nicht noch heftiger, sondern reiche ihm freundlichst die Hand und vergleiche dich im Frieden mit ihm, auf daß die alte Freundschaft unter euch wieder belebt werde!« * (* vgl. HaG1.174,14; a Mt.05,39 f.)

03] Darin ist also von einer Ohrfeige keine Rede. Eben dadurch hätte Ich dem Stärkeren ein Recht eingeräumt, seinem schwächeren Bruder oder Nachbarn, so oft es ihm beliebt hätte, nicht nur mit einem, sondern mit zwei Backenstreichen aufzuwarten.

04] Und ebenso verhält sich die Sache auch mit dem a Rechten um einen Rock. Um aber dieses Rechten eines Rockes wegen richtiger zu verstehen, muß man in den jüdischen Haussitten und Gebräuchen eine wenigstens halbwegs genügende Kenntnis haben. - (a Mt.05,40)

05] Es war unter ihnen von alters her Sitte und Gebrauchsform, so jemand zu einer Zeit, da er gewöhnlich kein Geld hatte und keine verkaufbaren Haustiere, aber dennoch eines Rockes oder Mantels oder beider Kleidungsstücke zugleich bedurfte, so ging er zu einem oder dem andern Kleidermacher seiner Gemeinde oder des Ortes hin, stellte ihm seine Lage vor und bestimmte ihm den Zahlungstermin. Nun geschah es aber sehr häufig, daß so mancher seinen Zahlungstermin entweder nicht einhalten konnte oder gar oft auch nicht wollte, und der Rock- und Mantelsteller war zwar verpflichtet, ihm noch bis zu einem nächsten zweiten, ja sogar bis zum dritten und letzten Termin - aber gegen ein kleines Interesse - zu warten, bis endlich der dritte und letzte Termin verflossen. Nach dem dritten Termin hatte der Rock- und Mantelsteller das Recht, das Bedungene von dem zu verlangen, dem er den Mantel und Rock gestellt hatte, und da ging es vor einem Richter oft nicht selten sehr hitzig her. Der Rocksteller wollte sein Bedungenes, der Besitzer des Rockes und des Mantels aber brachte allerlei Gründe vor, nach denen er auch nach dem abgelaufenen dritten Termin seinen Gläubiger nicht befriedigen konnte. Für diesen Fall bestand bei den Juden ein Gesetz, daß im Falle einer wirklichen Zahlungsunfähigkeit die Gemeinde verpflichtet war, den Kleidungssteller zu entschädigen, um ihn dadurch erwerbsfähig zu erhalten. Sie hatte dafür aber das Recht, mit der Zeit sich an dem zahlungsunfähigen Gemeindeinsassen zu entschädigen, so sie gewahr würde, daß dieser zahlungsfähig geworden war. Aber unter zehn solcher Schuldner wollte das oft kaum einer werden und verstand für seine permanente Zahlungsunfähigkeit allerlei Gründe vor die Gemeinde zu bringen. Dadurch kam es oft zu jahrelangen Streitigkeiten in einer solchen Gemeinde, und Ich wurde einmal darüber befragt, was da Rechtens wäre, um solchen Übeln zu begegnen. Und da eben sagte Ich: Das beste und wirksamste Mittel bestehe darin: erstens nach dem Gesetze Mosis vollkommen redlich und ehrlich zu sein, nachdem niemand etwas begehren oder verlangen solle, was seines Nächsten ist. Da es sich aber um das Rechten eines Rockes handelt, so möge das für den Schuldner und den Gläubiger gelten: zum wenigsen ein- bis zweimal lieber den Rock und am Ende auch noch den Mantel hin sein zu lassen, als die ganze Gemeinde in viele unnütze Streitigkeiten und Zwistigkeiten zu verleiten.



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