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Kapitelinhalt 197. Kapitel: Die Pforte öffnet sich und zeigt - als neue Überraschung - die Stadt Wien. Wichtige Belehrung über das Wesen jenseitiger Erscheinlichkeiten. Robert staunt über Cados Weisheit. Die Begriffe kindisch und kindlich.

Originaltext 1. Auflage 1898 durch Project True-blue Jakob Lorber

Text nach 2. Auflage 1929 Lorber-Verlag
Versnummerierung nach 3. Aufl. 1963, Lorber-Verlag

01] Damit tritt der Robert sogleich zur Pforte hin, macht mit leichter Anstrengung seiner Kräfte den Versuch, und der hohen Pforte breite und schwere Flügel gehen ohne allen Anstand auf.

02] Als nun die Pforte also eröffnet dastehet, fängt der Robert an, hellauf aufzulachen, und sagt: „Nun da haben wir nun den Himmel in der für diese Welt wahrlich allerseltsamsten Art vor uns. Nein, das ist wahrlich komisch über komisch! Geh' Helena, komm' her, und schaue!"

03] Helena kommt, und sieht schnell mit großer Aufmerksamkeit durch die geöffnete Pforte, und sagt nach einer kurzen Weile: „Je, je, das ist ja Wien, wie es leibt und lebt, und wir stehen hier wie am Weinberge bei der Spinnerin am Kreuze. O du himmlische Süßigkeit übereinander! Wien, und nichts als Wien! Also das ist das glorreiche vierte himmlische Gemach deines Hauses! Ah, Respekt! Nun, itzt können wir uns nachher in Wien gleich wieder um ein Dienstl umsehen; oder weißt du was, wir fangen auf den Basteien ein Bischen zu spucken an, zünden - natürlich unsichtbarer Weise - eine Kanone um die andere los; am End' hebt so was für die armen Wiener den Belagerungsstand auf. Nein, aber Spaß bei Seite, komisch ist das wohl, Himmel erwarten, und nach Wien auf d' Erd' dafür kommen! Nun, was sagst du dazu?"

04] Spr. Robert: „Ich Hab' es dir ja ehedem gesagt, als du mit der Minerva gar so gewaltig ge-oberlerchenfeldelt hast: daß wir statt in die reinen Gotteshimmel noch ganz rein nach Oberlerchenfeld kommen werden; und da siehe, meine Profezeihung ist in die Erfüllung gegangen. Vor Wien stehen wir bereits, und so werden wir wohl auch noch nach Oberlerchenfeld kommen! Muß nun aber doch auch unsern Freund Kado herführen, damit er die liebe Wienerstadt sieht."

05] Robert beruft den Kado, der unterdessen dahin seine Beobachtungen machte, von woher die große Gesellschaft ziehe. Kado geht sogleich hin, und Robert sagt zu ihm: „No Freund! wie gefällt dir denn der Himmel des irdischen Hauses Oesterreich? A saub'res himmlisches Jerusalem das! Siehst du die Pallisaden, die Schießscharten, und die schönen Kanonen, Mörser und Bombenkessel; nimmst du die Wachen aus und ihre herrlichen Blockhäuser? Ah, das ist wirklich schön, die himmlische Stadt auch im Belagerungszustand!"


06] Spricht die Helena: „Du Freund Kado! sage mir, ob wir für die Sterblichen nicht könnten auf eine kurze Zeit uns sichtbar machen, aber gleich darauf wieder unsichtbar? Weißt du, so ein Bischen nur möchte ich mir den Spaß machen, die lustigen Wiener ein wenig zu necken; vielleicht brächte sie so eine Neckerei auch um den Belagerungszustand. Und sollen Robert, ich und du etwa gar in dieser Welt Wohnung nehmen, so werden wir etwa doch den Belagerungszustand eher kassiren?" - Spricht Kado: „Aber liebeste Helena! Meinst denn du doch im Ernste, daß dieß das wirklich irdische Wien sei? Siehe, das ist ja nur eine Erscheinlichkeit und sonst nichts! Hat doch Robert zuvor von einer engen Pforte geredet, durch die man ins Himmelreich einziehen solle; und siehe, da steht sie schon vor uns! Ihr werdet bei dem Durchgange noch auf so manche Engstellen kommen, die euch sehr scheniren werden; aber es wird dennoch zum Durchkommen sein."

07] Spricht Robert: „Das meine ich auch, aber wie? das ist wieder eine andere Frage! Wenigstens muß dieß erscheinliche Wien doch eine Abbildung vom wirklichen irdischen sein, sonst könnte es ihm doch nicht gar so auf ein Haar gleich sehen." (Am 30. Mai 1850) Spricht wieder Robert Ur. nach einer Weile, sagend: „Erlaube mir, lieber Freund, daß ich dich noch mit einer Frage belästige! Du sagtest ehedem, daß dieß Wien nur so blos eine Erscheinlichkeit ist, und sonst nichts. Und doch steht es so klar vor uns, als wie wir uns selbst klar gegenüber stehen; sind demnach wir uns gegenseitig auch nur pure Erscheinlichkeiten; oder sind wir wirklich das, was wir zu sein scheinen? Ist diese Pforte etwa auch nur eine bloße Erscheinlichkeit und sonst nichts? Ich kann mich hier in den Begriff „Erscheinlichkeit" noch immer nicht finden; denn nach meiner Beurtheilung ist eine Erscheinlichkeit nichts anderes, als entweder ein Reflex eines irgend wirklich vorhandenen Dinges oder Wesens, oder sie ist zur Erklärung eines Begriffs, oder zur Prüfung eines Geistes blos nur für einen nutzbaren Moment erschaffen; hat sie aber ihren Dienst verrichtet, so tritt sie dann wieder aus der Sfäre jedes Daseins. Das ist so meine Idee über den Begriff „Erscheinlichkeit"; und ich meine, es wird sehr schwer halten, ihr eine andere Erklärung beizulegen. Es muß mir aber darüber vollste Klarheit werden, sonst bin ich genöthigt, alles für eine bloße Erscheinlichkeit zu halten, was mir seit meinem überirdischen Hiersein nur immer unter die Augen gekommen ist."

08] Spricht Kado: „Du hast ohnehin eine ganz richtige Idee von der Erscheinlichkeit, und ich werde dir darüber dann wenig mehr zu sagen brauchen. Nur das ist etwas unrichtig, daß da eine Erscheinlichkeit etwas ganz Leeres sein solle, weil sie vorderhand nur bloß eine Erscheinlichkeit ist. Siehe, eine Erscheinlichkeit ist hier, nach meinem Urtheile, entweder wirklich nur ein Abbild eines schon in der Wirklichkeit vorhandenen Dinges; oder sie ist ein Probeplan zu einer neuen Schöpfung zuerst beschaulich dem Herrn allein, dann aber auch jedem Geiste, der seinem Innern nach mit der neu erscheinlichen Idee des Herrn in irgend einem sage wesentlichen Liebeauswirkungsverbande steht. Daß aber solch eine Idee mit der moralischen Sfäre des Beschauers auch stets in eine solch entsprechende Stellung kommt wie eine Parabel, das ordnet des Herrn unbegrenzteste Weisheit also, und das so lange fort, bis der Geist jene Kraft und Stärke erreicht, selbst in dem Erscheinlichen das Wirkliche und Unvergängliche zu konstatiren.

09] Denn der zuerst hier anlangende Geist ist gewisserart noch viel zu zart und schwach, als daß man ihm sogleich die kräftigsten geistigen Wirklichkeiten entgegen stellen könnte, weil er sich an ihnen sehr stoßen und am Ende aufreiben würde, gleich als so man auf der Erde ein neugebornes Kind, anstatt es in weiche Windeln auf hartes Holz und Steine legen würde, was ihm sicher sehr übel bekommen dürfte. Aber nicht alles, was ein noch mehr oder weniger neu hier angekommener Geist zu Gesichte bekommt, ist pure Erscheinlichkeit, sondern zumeist nach der Kraft des Geistes auch zum größten Theile Wirklichkeit.

10] Die Pforte hier ist eine geistige Wirklichkeit, und wir uns gegenüber auch; aber jenes Wien dort ist nur eine Erscheinlichkeit, aber so, als wie du es selbst bemerkt hast, also als ein Abbild der wirklichen irdischen Stadt Wien, das ihr Beide von Zug zu Zug in eurer eignen Seele beschaulich berget; dieß Bild aber gravirt eure Seele noch dann und wann, und erzeugt auch dann und wann Unlauteres in ihr, das sich in irgend einem etwas mehr gereizten Lebenszustande den Weg bahnt, und in die „redende Erscheinlichkeit" tritt; solches kann aber im reinsten Gottesliebelichte, das da ist der reinste Himmel, nicht Eingang finden und daselbst bestehen, da etwas nur im geringsten Unreines in die Himmel Gottes unmöglich eingehen kann. Und so tritt denn nun aus eurer Seele, die sich vor dem Eingange in die reinsten Gotteshimmel befindet, und schon von der reinsten Himmelsluft angewehet wird, das letzte unreine Bild der Stadt Wien heraus, auf daß ihr es beschauen, und daraus für immer aus euch verbannen möget und könnet; aber, wie schon früher einmal bemerkt,

11] es wird euch noch einige Mühe und Arbeit kosten! - Aber mit der beständigen Hülfe des Herrn wird sich auch das machen, und leichter als ihr es meinet; darum seid muthig im Herrn, so wird alles leicht und fertig gehen."

12] Spricht R. Ur.: „Aber liebster Freund! sage mir blos das noch, woher du nur deine Weisheit nimmst? Denn das war schon wieder also geredet, als wie aus dem heiligsten Munde des Herrn Selbst; geh' und erkläre mir das! Denn ich bin früher stets der Meinung gewesen, daß du darum mit uns hieher gezogen bist, auf daß du durch mich und die Helena für die Himmel Gottes möchtest vorbereitet und tüchtig gemacht werden. Und nun geschieht gerade das allerblankste Gegentheil! Du bist unser allervollendetster Meister, und wir beide haben kaum die hinreichende Fassungskraft, dich so viel als möglich zu verstehen. Sage mir, bist du wohl im Ernste derselbe Kado, der auf dem Hügel dort im Norden die Minerva schlug mit Wort und That; oder bist du blos so als ein Kado maskiret, und bist in der That irgend ein allererster Erzengel Gottes? Denn nur auf diese Art läßt sich deine Weisheit begreifen; sonst bleibt sie mir ein Räthsel. Ich bin Gott Lob doch auch gerade nicht eines total verschlagenen Kopfes und Herzens; aber so du deinen Mund nur aufmachst, da bin ich schon geschlagen wie mit zehntausend Blitzen auf einen Schlag. Also, liebster Freund, sag' es mir, woher du deine Weisheit borgest!"

13] Spricht Kado etwas lächelnd: „So es an der rechten Weile sein wird, wirst du Alles erfahren; nun aber ist das die Hauptsache nicht; darum kümmere dich vorderhand dessen nicht, indem viel wichtigere Dinge vor dir stehen. Sieh', die große Gesellschaft kommt, trete darum in die Pforte!"

14] Spricht Robert: „Ganz wohl, ganz überaus wohl, aber du allerliebster Freund mußt auch mit mir; denn du bist doch zehntausend Male reifer für die reinsten Himmel als ich." - Spricht Kado: „Nun ja, das versteht sich doch von selbst, daß ich dich nicht allein werde gehen lassen und eben so wenig die allerherzlichste Helena, die ich ebenfalls sehr lieb habe." - Spricht Robert: „Aber wie werde ich denn die große Gesellschaft nun hier in der Pforte stehend empfangen? mit welchen Worten werde ich sie anreden? was werde ich zum Herrn sagen, wie mich über meine Dummheit bei Ihm entschuldigen, wie bei den Profeten, bei den Aposteln, und wie bei den vielen andern Weisen, die auch bei dieser wahrhaft heiligsten Gesellschaft sich befinden? O Freund! helfe mir da nur ein wenig aus meiner neuen Noth!"

15] Spricht Kado: „Aber ich bitte dich, Freund Robert, sei nicht läppisch und kindisch! Kindlich magst du zwar sein, so stark du es nur immer sein kannst, aber nur kindisch nicht. Denn kindisch ist der Verstand der Kinder, und der ist kein nütze; aber kindlich ist ihr Gemüth, und das ist vom größten Werthe vor Gott. Ich werde dir es schon heimlich eingeben, was du wirst zu reden haben vielleicht, aber das Wenige muß gut sein."

16] Spricht Robert: „Ja, wie wirst du mir denn heimlich eingeben können? da müßtest du ja förmlich ein Gott sein, oder der Herr müßte dir zudem eine eigene Kraft verliehen haben." - Spricht Kado: „Ei, ei, bist du aber doch ein lästiger Grübler! Muß man denn gleich alles bis auf den letzten Grund einsehen? Schau, die Ewigkeit ist ja doch so hübsch lang, und es wird sich in ihr noch gewiß sehr viel einsehen und begreifen lassen. Gebe nun Acht, die Apostel kommen, voran Petrus, Johannes und Paulus als die ersten; mit ihnen wirst du also zuerst etwas zu thun bekommen."

01] Damit tritt Robert sogleich zur Pforte hin, macht mit leichter Anstrengung seiner Kräfte den Versuch. Und der hohen Pforte breite und schwere Flügel gehen ohne allen Anstand auf.

02] Als nun die Pforte also eröffnet dasteht, fängt Robert an, hellaut aufzulachen, und sagt: "Nun, da haben wir nun den Himmel in der für diese Welt wahrlich allerseltsamsten Art vor uns! - Nein, das ist wahrlich komisch über komisch! - Geh, Helena, komm her und schaue!"

03] Helena kommt und sieht schnell mit großer Aufmerksamkeit durch die geöffnete Pforte und sagt nach einer kurzen Weile: "Je, je, das ist ja Wien, wie es leibt und lebt! Und wir stehen hier wie am Wiener Berge bei der Spinnerin am Kreuz! O du himmlische Süßigkeit übereinander! Wien und nichts als Wien! Also das ist das glorreiche vierte himmlische Gemach deines Hauses! Ah, Respekt! - Na, jetzt können wir uns nachher in Wien gleich wieder um ein Dienstl umsehen! Oder weißt du was, wir fangen auf den Basteien ein bißchen zu spucken an, zünden - natürlich unsichtbarerweise eine Kanone um die andere los! Am Ende hebt so etwas für die armen Wiener den Belagerungszustand auf!? - Nein, aber Spaß beiseite, komisch ist das wohl, den Himmel erwarten und dafür nach Wien auf die Erde kommen! - Nun, was sagst du dazu?!"

04] Spricht Robert: "Ich habe es dir ja ehedem gesagt, als du mit der Minerva gar so gewaltig gelerchenfeldet hast, daß wir statt in die reinen Gotteshimmel noch ganz rein nach Oberlerchenfeld kommen werden! Und da siehe, meine Prophezeiung ist in die Erfüllung gegangen! Vor Wien stehen wir bereits, und so werden wir wohl auch noch nach Oberlerchenfeld kommen! Muß nun aber doch auch unsern Freund Cado herführen, damit er die liebe Wienerstadt sieht!".

05] Robert beruft den Cado, der unterdessen seine Beobachtungen dahin machte, von wo die große Gesellschaft heranzieht. - Cado geht sogleich hin, und Robert sagt zu ihm: "Nun, Freund, wie gefällt dir denn der Himmel des irdischen Hauses Österreich?! Ein sauberes himmlisches Jerusalem das! Siehst du die Palisaden, die Schießscharten und die schönen Kanonen, Mörser und Bobenkessel!? Nimmst du die Wachen und ihre herrlichen Blockhäuser wahr!? Ah, das ist wirklich schön: die himmlische Stadt - auch im Belagerungszustande!"

06] Spricht die Helena: "Du, Freund Cado, sage mir, ob wir uns für die Sterblichen nicht auf eine kurze Zeit könnten sichtbar, aber gleich darauf wieder unsichtbar machen? Weißt du, so ein bißchen nur möchte ich mir den Spaß machen, die lustigen Wiener ein wenig zu necken! Vielleicht brächte sie so eine Neckerei auch um den Belagerungszustand. Und sollten Robert, ich und du etwa gar in dieser Stadt Wohnung nehmen, so werden wir doch gewiß den Belagerungszustand zuvor aufheben?!" - Spricht Cado: "Aber liebste Helena! Meinst denn du im Ernste, daß dies das wirkliche, irdische Wien sei?! Siehe, das ist ja nur eine Erscheinlichkeit und sonst nichts! Hat doch Robert zuvor von einer engen Pforte geredet, durch die man ins Himmelreich einziehen soll. Und siehe, da steht sie schon vor uns! Ihr werdet bei dem Durchgange noch auf so manche Engstellen kommen, die euch sehr schwerfallen werden; aber es wird dennoch zum Durchkommen sein."

07] Spricht Robert: "Das meine ich auch! Aber wie - das ist wieder eine andere Frage! - Wenigstens muß dies erscheinliche Wien doch eine Abbildung vom wirklichen, irdischen sein, sonst könnte es ihm doch nicht gar so auf ein Haar gleichsehen." - (Nach einer Weile fortfahrend:) "Erlaube mir übrigens, lieber Freund, daß ich dich noch mit einer Frage belästige! - Du sagtest vordem, daß dies Wien bloß nur so eine Erscheinlicheit sei und sonst nichts. Und doch steht es so klar vor uns, wie wir selbst uns gegenüber stehen. Sind demnach wir uns gegenseitig auch nur pure Erscheinlichkeiten? Oder sind wir wirklich das, was wir zu sein scheinen? Ist diese Pforte etwa auch nur eine bloße Erscheinlichkeit und sonst nichts? - Ich kann mich hier in den Begriff ,Erscheinlichkeit' noch immer nicht finden. Denn nach meiner Beurteilung ist eine Erscheinlichkeit nichts anderes als entweder der Reflex (Rückstrahl, Spiegelschein) eines wirklich vorhandenen Dinges oder Wesens - oder sie ist zur Erklärung eines Begriffes oder zur Prüfung eines Geistes bloß nur für einen nutzbaren Moment erschaffen; hat sie aber ihren Dienst verrichtet, so tritt sie dann wieder aus der Sphäre jeglichen Daseins. Das ist so meine Idee über den Begriff "Erscheinlichkeit". Und ich meine, es wird sehr schwer halten, ihr eine andere Erklärung beizulegen. Es muß mir aber darüber vollste Klarheit werden, sonst bin ich genötigt, alles für eine bloße Erscheinlichkeit zu halten, was mir seit meinem überirdischen Hiersein nur immer unter die Augen gekommen ist".

08] Spricht Cado: "Du hast schon selbst eine ganz richtige Idee von der Erscheinlichkeit, und ich werde dir darüber wenig mehr zu sagen brauchen. Nur das ist etwas unrichtig, daß da eine Erscheinlichkeit etwas ganz Leeres sein soll, weil sie vorderhand nur bloß eine Erscheinlichkeit ist. Siehe, eine Erscheinlichkeit ist hier (in der geistigen Welt), nach meinem Urteile, entweder wirklich nur ein Abbild eines schon in der Wirklicheit vorhandenen Dinges, oder sie ist ein Probeplan zu einer neuen Schöpfung, zuerst beschaulich dem Herrn allein, dann aber auch jedem Geiste, der seinem Innern nach mit der neuerscheinlichen Idee des Herrn in irgendeinem wesentlichen Liebeauswirkungsverbande steht. Daß aber solch eine Idee mit der moralischen (geistigen) Sphäre des Beschauers auch stets in eine entsprechende Beziehung kommt wie ein Gleichnis - das ordnet des Herrn unbegrenzte Weisheit also und so lange an, bis der Geist jene Kraft und Stärke erreicht, selbst in dem Erscheinlichen das Wirkliche und Unvergängliche zu erkennen.

09] Denn ein hier anlangender Geist ist zuerst gewisserart noch viel zu zart und schwach, als daß man ihm sogleich die kräftigsten geistigen Wirklichkeiten entgegenstellen könnte. Er würde sich an ihnen sehr stoßen und am Ende aufreiben, gleich als so man auf der Erde ein neugeborenes Kind, anstatt in weiche Windeln, auf hartes Holz und Steine legen würde, was ihm sicher sehr übel bekommen dürfte. - Aber nicht alles, was ein noch mehr oder weniger neu hier angekommener Geist zu Gesichte bekommt ist pure Erscheinlichkeit, sondern zumeist, nach der Kraft des Geistes, auch zum größten Teile Wirklichkeit!

10] Die Pforte hier ist eine geistige Wirklichkeit, und wir gegenüber auch. - Aber jenes Wien dort ist nur eine Erscheinlichkeit, aber so - wie du es selbst bemerkt hast - als Abbild der wirklichen, irdischen Stadt Wien, das ihr beide von Zug zu Zug in eurer eigenen Seele beschaulich berget. Dies Bild aber beschwert eure Seele noch dann und wann und erzeugt auch dann und wann Unlauteres in ihr, das sich in irgendeinem etwas mehr gereizten Lebenszustande den Weg bahnt und in die ,redende Erscheinlichkeit' tritt. Solches kann aber im reinsten Gottes-Liebelichte, das da ist der reinste ,Himmel', nicht Eingang finden und daselbst bestehen, da etwas nur im geringsten Unreines in die Himmel Gottes unmöglich eingehen kann. Und so tritt denn nun aus eurer Seele, die sich vor dem Eingange in die reinsten Gotteshimmel befindet und schon von der reinsten Himmelsluft angeweht wird, das letzte unreine Bild der Stadt Wien heraus, auf daß ihr es beschauen und daraus für immer aus euch verbannen möget und könnet.

11] Aber, wie schon früher einmal bemerkt, es wird euch noch einige Mühe und Arbeit kosten! Jedoch mit der beständigen Hilfe des Herrn wird sich auch das machen, und zwar leichter als ihr es meinet! - Darum seid mutig im Herrn, so wird alles leicht und vollkommen vonstatten gehen!"

12] Spricht Robert: "Aber liebster Freund, sage mir bloß das noch, woher du nur deine Weisheit nimmst?! Denn das war schon wieder also geredet, wie aus dem heiligsten Munde des Herrn selbst! Geh und erkläre mir das! Denn ich bin früher stets der Meinung gewesen, daß du mit uns darum hieher gezogen seist, auf daß du durch mich und die Helena für die Himmel Gottes möchtest vorbereitet und tüchtig gemacht werden. Und nun geschieht gerade das allerblankste Gegenteil! Du bist unser allervollendetster Meister, und wir beide haben kaum die hinreichende Fassungskraft, dich soviel als nötig zu verstehen. - Sage mir, bist du wohl im Ernste derselbe Cado, der auf dem Hügel dort im Norden die Minerva schlug mit Wort und Tat? Oder bist du bloß so als ein Cado maskiert und bist in der Tat irgendein allererster Erzengel Gottes? Denn nur auf diese Art läßt sich deine Weisheit begreifen, sonst bleibt sie mir ein Rätsel. Ich bin, Gott Lob, doch auch gerade nicht eines völlig verschlagenen Kopfes und Herzens. Aber so du deinen Mund nur aufmachst, da bin ich schon geschlagen wie mit zehntausend Blitzen. - Also, liebster Freund, sage mir, woher du deine Weisheit borgst!?"


13] Spricht Cado, etwas lächelnd: "So es an der rechten Weile sein wird, wirst du alles erfahren! Nun aber ist das die Hauptsache nicht! Darum kümmere dich vorderhand dessen nicht, da viel wichtigere Dinge vor dir stehen! - Sieh, die große Gesellschaft kommt! Trete darum in die Pforte!"

14] Spricht Robert: "Ganz wohl, ganz überaus wohl! Aber du allerliebster Freund mußt auch mit mir, denn du bist doch zehntausend Male reifer für die reinsten Himmel Gottes als ich!" - Spricht Cado: "Nun ja, das versteht sich doch von selbst, daß ich dich nicht allein werde gehen lassen und ebensowenig die allerherzlichste Helena, die ich ebenfalls sehr liebhabe." - Spricht Robert: "Aber wie werde ich denn die große Gesellschaft nun hier, in der Pforte stehend, empfangen? Mit welchen Worten werde ich sie anreden? Was werde ich zum Herrn sagen? Wie mich über meine Dummheit bei Ihm entschuldigen, wie bei den Propheten, bei den Aposteln und wie bei den vielen anderen Weisen, die auch bei dieser wahrhaft heiligsten Gesellschaft sich befinden? - O Freund, helfe mir da nur ein wenig aus meiner neuen Not!"

15] Spricht Cado: "Aber ich bitte dich, Freund Robert, sei nicht läppisch und kindisch! Kindlich magst du zwar sein, so stark du es nur immer sein kannst - aber nur kindisch nicht! Denn kindisch ist der Verstand der Kinder, und der ist kein nütze. Aber kindlich ist ihr Gemüt, und das ist vom größten Werte vor Gott. - Ich werde es dir schon heimlich eingeben, was du wirst zu reden haben - viel nicht, aber das wenige muß gut sein!"

16] Spricht Robert: "Ja, wie wirst du mir denn heimlich eingeben können?! Da müßtest du ja förmlich ein Gott sein, oder der Herr müßte dir dazu eine eigene Kraft verliehen haben!" - Spricht Cado: "Ei, ei, bist du aber doch ein lästiger Grübler! Muß man denn gleich alles bis auf den letzten Grund einsehen?! Schau, die Ewigkeit ist ja doch so hübsch lang, und es wird sich in ihr gewiß noch sehr viel einsehen und begreifen lassen! - Gebe nun acht, die Apostel kommen - voran Petrus, Johannes und Paulus als die ersten! Mit ihnen wirst du also zuerst etwas zu tun bekommen."

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