Jakob Lorber: 'Schrifttexterklärungen'


20. Kapitel: »Und er sah, daß sie Not hatten im Rudern; denn der Wind war ihnen entgegen. Und er kam um die vierte Nachtwache zu ihnen, wandelnd auf dem See; und Er wollte neben ihnen vorübergehen.« (Markus.06,48)

01] »Und er sah, daß sie Not hatten im Rudern; denn der Wind war ihnen entgegen. Und er kam um die vierte Nachtwache zu ihnen, wandelnd auf dem See; und Er wollte neben ihnen vorübergehen.«

02] Lange Verse brauchen kurze Erklärung, weil sie zumeist die Erklärung schon in sich führen. Kurze Verse aber brauchen eine längere Erklärung, weil sie fürs erste ihrer Kürze wegen noch keine mit sich führen, und fürs zweite, weil in ihnen gewöhnlich das Licht gedrängter und fester verschlossen ist und es daher mehr erfordert, all ihr Licht frei zu machen, als bei längeren Versen, die ohnehin schon in ihrer Stellung stark genug leuchten.

03] Aus diesem Grunde kann Ich euch auch über den vorliegenden Text keine gedehnte Erklärung geben, weil sein Licht ohnehin sehr stark ist; und wenn ihr nur ein wenig darüber nachdenken wollt, so müßt ihr es von selbst mit Händen und Füßen zugleich begreifen! Damit ihr aber solches einseht, so will Ich euch bloß nur durch ganz kurze Winke darauf hinleiten, und ihr werdet zur Verständigung dieses Textes daran zur Genüge haben. Und so hört denn!

04] Der ,See' bedeutet die Welt; die widrigen ,Winde' sind das Tun und Treiben der Welt und ihre Begierlichkeiten, gegen die ein rechter Schiffer bis zur vierten Nachtwache, die seine letzten Lebenstage bezeichnet, also die ganze Lebenszeit hindurch zu kämpfen hat; denn unter ,Nacht' wird das materielle Leben auf dieser Welt verstanden.

05] Der Herr ist nicht im Schiffe. Warum denn nicht? - Weil nicht in der Welt; denn das Schiff bezeichnet den in der Welt lebenden Menschen, mit welchem der Herr nicht ist wegen seiner Freiheit.

06] Der Herr aber wandelt dennoch dem Schiffer wunderbar nach und geht über all die Wogen und Wellen der Welt also hinüberweg, als wären sie festes Land. Er kümmert Sich nicht der Schiffer auf dem See; da (wo) Er einen antrifft, da zieht Er vorüber, damit Er ihn nicht in seiner Freiheit störe.

07] Wenn Er aber trifft ein Schiff, das Seine Jünger trägt, d.h. solche Menschen, die Ihn erkennen und anrufen, so nähert er Sich dennoch dem Schiffe, obschon Er sonst auch vorbeigehen würde; denn das Schiff trägt ja Seine Jünger, oder: In dem Menschen ist ein Herz da, welches den Herrn liebt, an Ihn lebendig glaubt und Ihn anruft.

08] Das Herz fürchtet sich zwar im Anfange und hält Ihn für ein Gespenst, d.h.: ein Mensch, welcher noch voll irriger Vorstellungen über Mich ist, hält es für unmöglich oder gar für eine Chimäre (Trugbild, Hirngespinst), daß Ich Mich ihm auf der Wett nahen könnte und gar besteigen sein Schiff.

09] Wenn er aber dennoch darum in seiner Liebe nicht nachläßt, so komme Ich seinem Schiffe näher und melde Mich ihm; und hat er Meine Stimme vernommen, so Ich zu ihm spreche: »Fürchte dich nicht; denn Ich bin es ja, dein Meister, dein Herr, dein Gott und dein Vater!«, da wird die Furcht vor dem Gespenste alsbald vergehen, und der Mensch wird Mich mit übergroßen Freuden in sein Schiff aufnehmen!

10] Seht, das ist schon die ganze Erklärung dieses Textes! Nur eine Frage bleibt noch übrig, nämlich: Wie muß das Schiff bestellt sein, das da Meine Jünger trägt? Ist es etwa ein gelehrt zusammengestelltes Dampfschiff, oder ist es etwa ein dreimastiges, mit hundertsechzig Kanonen bestelltes Linienschiff, etwa eine Fregatte, ein Schoner, eine Brigg oder etwa ein reich beladenes Kauffahrteischiff? - O nein! Alle diese Schiffsgattungen tragen Meine Jünger nicht; denen weiche Ich auch gewöhnlich so weit aus, daß sie Mich nicht einmal als ein Gespenst irgend erschauen! Wer möchte sich aber auch solchen Schiffen nahen, die mit Kanonen versehen sind?! Ihr Schutz ist der Tod; aber die Schiffe, welche den Tod zum Schutze haben, gehen ja auch sicher vor dem Tode, - denn der Tod hat vor dem Tode nichts zu fürchten. Aber wo der Tod um ein Schiff seinen weiten Umkreis hält (Schußweite der Kanonen), da geht das Leben fern von dannen vorbei.

11] Wie muß denn aber hernach das Schiff aussehen, das die Jünger trägt? - Ich sage euch: Ganz außerordentlich einfach! Es ist bloß ein von mehreren festen Balken zusammengebundenes und gefestetes, der Oberfläche des Wassers fast ganz gleich hoch seiendes Floß, wo die Schiffahrer höchstens um ein paar Fuß über der Oberfläche des Wassers gestellt sind. Es darf keine Segel haben, damit es nicht vom Winde der Welt bemeistert wird, sondern bloß nur nach jeder Seite hin feste Ruder, damit es soviel als möglich unberührt von den verschiedenen Weltwinden von dem Willen der Seefahrer durch die festen Ruder frei überallhin geleitet werden kann.

12] Wenn Ich auf ein solches demütiges Schiff komme, das erkenne Ich dann als ein solches, das Meine Jünger trägt; solch einem Schiffe nähere Ich Mich dann und besteige dasselbe. Warum denn? - Weil so ein Schiff fürs erste keine so schnelle Bewegung hat, weil keine Segel und keine Dampfräder, sondern pur Ruder nur, durch welche keine so geschwinde Bewegung hervorgebracht wird, und Ich kann es dann leicht einholen; fürs zweite aber, weil ein solches Schiff keinen Todesumkreis hat, dessen Freund Ich, als das Leben Selbst, nicht bin; und fürs dritte, weil so ein Schiff seiner großen Niedrigkeit wegen von der Oberfläche des Wassers hinweg ohne allen Anstand und ohne alle Anstrengung leicht bestiegen werden kann.

13] Ich aber bin durchaus kein Freund von großen Anstrengungen; was bei Mir nicht mit der größten Leichtigkeit, wie nahezu frei von sich selbst, geschehen kann, das lasse Ich gehen, wie es geht. - Ihr werdet es leicht begreifen, warum? Denn ein jeder Mensch hat seine vollkommene Freiheit, die von Mir nie beirrt wird!

14] Wo aber Ich dennoch so ein ganz niederes und bequem zu besteigendes Schifflein über den schwankenden Wogen der Welt antreffe und werde vom selben erkannt, da steige Ich auch ein, und wenn Ich auch willens wäre vorüberzugehen. Und bin Ich einmal auf dem Schifflein, da wird's auch sogleich Tag, und am Tage ersieht man leicht das sichere Ufer, - und Ich als ein guter Schiffsmeister werde dann wohl etwa das Ufer nicht verfehlen.

15] Ich meine, ihr werdet diese Erklärung verstehen. Besteiget daher auch ihr so ein Schiffchen, je niedriger es ist, desto besser, - und Ich werde auch diesem Schifflein Mich nahen und werde es dann völlig besteigen! Amen.


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