Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 7


Kapitelinhalt 116. Kapitel: Die Frage nach der Wahrheit.

01] Sagte nun Ich: »O ja, tritt nur näher! Wenn diese Nacht auch etwas dunkel ist, so werden wir uns hoffentlich auch in der Nacht ein wenig näher kennenlernen! Was hast du denn eigentlich für ein Anliegen an Mich? Was willst du von Mir noch über das, was dir Mein jung scheinender Diener gesagt und gezeigt hat? Rede, - aber mache nicht viele Worte!«

02] Sagte der Magier: »Du bist wahrlich und sicher ein großer und weiser Mann. Du fielst mir im Saale auf, und mein Herz war von deinem Anblick so sehr gerührt und angezogen, daß ich mich selbst sehr mäßigen mußte, um nicht unartigstermaßen zu dir ordentlich hinzuspringen und dich mit aller Gewalt an meine Brust zu drücken. Das war ein Gefühl, das ich zuvor noch niemals empfunden habe, und so wollte ich dich nun fragen, warum ich und auch meine beiden Gefährten von dir gar so mächtig angezogen wurden, während wir doch deinen holdesten Diener mit vielem Gleichmute nur bewundern konnten. O du lieber Mann, löse uns doch dieses Rätsel!«

03] Sagte Ich: »Das Licht erweckt das Licht, die Liebe die Liebe und das Leben das Leben; denn ein Toter kann keinen Toten erwecken und ein Blinder kann keinem Blinden einen Führer machen. Da habt ihr den Grund von dem, was ihr über Mich gefühlt habt. Das andere werdet ihr noch später erfahren.«

04] Diese Worte machten auf die drei einen tiefen Eindruck. Sie schwiegen darauf und dachten bei sich darüber sehr nach; wir aber betrachteten die Erscheinung im Süden ruhig weiter.

05] Nach einer Weile tiefen Nachdenkens über die wenigen Worte, die der Magier aus Meinem Munde vernommen hatte, sagte er zu seinen zwei Gefährten: »Hört, der muß ein gar großer Weiser sein; denn er sagte mit wenigen Worten so ungeheuer vieles, daß man darüber viele Jahre lang zu denken und zu reden hätte. Oh, wenn er uns etwa doch noch so ein paar Worte sagen möchte, wie selig wären wir dann! Aber er scheint gleich allen großen Weisen wortkarg zu sein; denn ihnen ist das nicht selten zu albern und kleinlich, um was wir als noch unweise Menschen sie fragen, wenn auch für unseren Verstand unsere Fragen als etwas Weises erscheinen. Aber er sagte ja selbst, daß die Liebe wieder Liebe erwecke, und wir lieben ihn nun schon sehr, und so werde ich ihn denn doch noch um etwas fragen, bevor wir uns hinab in unsere Herberge begeben werden.«

06] Damit waren die zwei andern einverstanden, und der Magier kam wieder in Meine Nähe und sagte: »O du lieber, weiser Mann, da ich aus deinen Worten entnommen habe, daß du ein gar großer Weiser bist, so konnte ich meinem innersten Herzensdrange nicht länger widerstehen, dir mit noch einer Frage lästig zu fallen: denn du sagtest ja, daß die Liebe wieder Liebe erwecke, und ich schließe daraus, daß du uns liebhast, und deine Liebe zu uns hat dann auch sicher unsere innige Liebe zu dir erweckt, ansonst wir dich nicht so sehr lieben könnten, wie wir dich lieben! So du uns aber liebst, wie auch wir dich sehr lieben, so wirst du uns nicht gram werden, wenn ich dich noch mit einer kleinen Frage belästige?!«

07] Sagte Ich: »Oh, durchaus nicht; denn ihr habt noch Weile genug, Mich nun um irgend etwas zu fragen, und ihr habt auch Weile zur Genüge, Mich anzuhören, gleichwie auch Ich Weile habe, euch zu antworten. Und so kannst du schon fragen, und Ich werde euch antworten in Meiner Art und Weise.

08] Frage aber um Dinge, die eines rechten Menschen würdig sind! Denn um gar vieles sorgt und kümmert sich oft ein Mensch; doch eines ist nur, das ihm not tut, und dieses eine ist die Wahrheit. Wenn der Mensch alles besäße, und die Wahrheit fehlte ihm, so wäre er dennoch das ärmste Wesen der Welt.

09] Der Mensch suche daher vor allem die Wahrheit, welche ist das wahre Reich Gottes auf Erden! Hat er das gefunden, so hat er damit auch schon alles gefunden. Darum frage du um nichts anderes als um die Wahrheit; denn die allein tut euch not!«

10] Sagte nun der Magier: »Ja, du edler, weiser Mann, du hast sehr recht und weise gesprochen! Die Wahrheit in allen Dingen und Sphären ist wahrlich das höchste Gut des denkenden und seines Daseins wohl bewußten Menschen. Jeden Mangel fühlt der Denker und Sucher um vieles weniger als den traurigsten Mangel der Wahrheit. Aber wo findet er diese?

11] Wir suchen die Wahrheit schon volle dreißig Jahre, und erst eben hier sind wir auf ihre Spur gekommen, haben sie selbst in ihrer Lichtfülle aber noch immer nicht gefunden. Darum frage ich nun dich, der du die Wahrheit schon in ihrer ganzen Fülle gefunden zu haben scheinst: Was ist die Wahrheit, wo ist sie, und wo finden wir sie?

12] Der wenig oder oft auch gar nichts denkende Mensch ist natürlich bald befriedigt; denn er nimmt auch die Lüge für eine Wahrheit an. Er glaubt, und sein blinder Glaube macht ihn zufrieden und selig. Aber ganz anders geht es dem denkenden und suchenden Menschen. Der kann nicht blind glauben. Er muß im Lichte schauen und die Wahrheit mit Händen greifen, so ihm das Leben etwas sein soll; denn ohne solche Vollbeweise für die Wahrheit ist der Denker und Sucher das elendeste Wesen auf der ganzen Erde, elender, als ein im Staube der Nichtigkeit zertretener und sich krümmender Wurm, der sicher kaum fühlen wird, daß er da ist.

13] Wir sind Denker und Sucher und sind sehr elend, weil wir die Wahrheit nicht finden können. Da wir aber hier durch den jungen, weisen und wahrlich göttlich mächtigen Menschen auf die Fährte der Wahrheit geleitet wurden, und du uns nun auch darauf aufmerksam gemacht hast, daß wir uns nur allein um die Wahrheit sorgen und kümmern sollen, und daß wir alles hätten, so wir zum Besitze der Wahrheit gelängen, so fragen wir denn noch einmal und sagen wie zuvor: Was ist die Wahrheit, wo ist sie, und wo finden wir sie?«



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