Hepidanus von St. Gallen (1010-1088)
Text ohne Überschriften aus: www.sabon.org (dort aber nicht mehr auffindbar)
Inhaltsübersicht:
Hepidanus lebte um 1081 im Benediktinerkloster von St. Gallen. Sein Mitbruder Bartholomäus schilderte in Aufzeichnungen, die sich in der Stiftsbibliothek befinden, wie er Mitte des Jahres 1081 mit Hepidanus zusammentraf. Hepidanus entwickelte endzeitliche Kriegsvisionen bei diesen Gesprächen
Fünfter Sonntag nach Ostern 1081
Frater Bartholomäus schreibt: »Ich war gestern nach den Vigilen mit dem Bruder Hepidanus zusammen und sprach mit ihm über die Ereignisse, welche in jüngster Zeit die ganze Christenheit in Schrecken und Aufruhr gebracht haben. Da sprach Hepidanus zu mir: 'Folge mir hinaus in den Klostergarten. Ich will dir merkwürdige Dinge mitteilen von dem, was ich gesehen und gehört habe!' Als wir die große eiserne Pforte geöffnet hatten und in den Garten hinausgetreten waren, der sich gegen die Höhen zum schwarzen Kreuz von Mitternacht gegen Mittag ausdehnt, sah ich vor mir im Zwielichte die Berge Welschlands sich erheben.
Bartholomäus: »'Ich sah', erzählte er mir, 'in Germanien, wo jetzt die Wälder sich längs der Ufer der Ströme hinziehen, ein ungeheuer großes, fruchtbares, von unzähligen Menschen bewohntes Land. Als ich mit Bewunderung dorthin schaute, hörte ich plötzlich eine starke Stimme gleich dem Brausen des Sturmwindes an den Gipfeln der Berge, die zu mir sprach: 'Ich bin der Geist, der ausgeht von den sieben Leuchtern vor dem Throne dessen, der da ist, sein wird und war und der waltet über dem Menschengeschlechte seit Anfang der Dinge.
Öffne deine Augen und schaue! Höre auf das, was ich dir sagen werde! Siehe! Ich will meine Ferse auf den Erdboden setzen und ein Volk soll emporsprießen, wo jetzt der Wald die Fläche bedeckt und der Eber dem Speer des Unfreien erliegt und der Ur der Falle des jungen Jägers. Ich werde es groß machen unter allen Völkern der Erde. Die Sonne, die von Süden die Welt erleuchtet und erwärmt, will ich nach Norden versetzen, und aus den Gegenden des Schreckens und der Nacht soll ein Licht ausgehen, dergleichen man bisher nie gesehen. Aus Germaniens Gründen wird ein Strom hervorquellen, der die ganze Welt überflutet.
Wehe jenen, die sich erkühnen, dem Lauf dessen zu widerstehen, der seine Pflugschar über die Berge zieht und den Staub seiner Füße gegen Abend am Meere abschüttelt. Es wird unter den Stämmen Germaniens ein Volk auferstehen und ein Haupt werden über alle seine Brüder. Langer Zwiespalt wird dem Glanze seiner Macht vorangehen. Der Herr wird gegen den Knecht und der Untergebene wider seinen Vorgesetzten sein Recht behaupten und verfechten.
Dann wird ein Mann auferstehen mitten aus dem Strudel der Parteiungen. Er wird, ohne dem Unrecht Stützpunkt zu sein, doch mit dem Rechte Recht sprechen wider das Recht, und vom Aufgange zum Niedergange wird sein Name in aller Mund sein. Verdammt und gehaßt von den einen, wird er bewundert von den anderen werden. Zwar wird unsägliches Elend an seine Schritte geknüpft sein und sein Name leben in der Geschichte inmitten von Leichenhügeln und Tod.
Auch wird das nicht geschehen, was die Mehrzahl der Menschen glauben wird, was er erstrebe. Er wird viel mehr das Werkzeug des Geschickes sein, dazu bestimmt, die alte Welt in Trümmer zu schlagen und, wollend oder nicht wollend, das Volk, aus dem er hervorgegangen, zur Freiheit zu bringen. Wehe dem, der in jener furchtbaren, aber großen Zeit lebend, seinen Standpunkt versetzt und, geblendet durch das Gaukelspiel trügerischer Dämone, sich auf Abwege begibt, die ihm selbst, seinem Volke und Geschlechte Verderben bringen werden. Denn es werden in jenen Tagen des Zweifels und des Unglaubens falsche Propheten aufstehen und mit gleißender Stimme ihr Gift feilbieten und jene elendig zugrunde richten, die, leichtgläubig und von einseitigen Vorurteilen befangen, ihnen Glauben schenken.
Wer Ohren hat, zu hören, der höre; wer Augen hat, zu sehen, der säume nicht, sie dem Lichte zu öffnen.
Ein mächtiges Reich wird in jenen Tagen zugrunde gehen und ein mächtigeres an seine Stelle treten. Von Osten her weht ein Sturm, und aus Westen heult der Wind: Wehe allem, das in den Bereich dieses furchtbaren Wirbels geraten wird. Tausendjährige Herrschersitze werden herabsinken aus ihrer Höhe, gleich wie der Wirbelwind das Strohdach der Hütte fortführt.
Zwischen dem Rhein und der Elbe und dem morgenwärts fließenden Strome Donau wird ein weites Leichenfeld sich ausdehnen, eine Landschaft der Raben und Geier. Und wenn dereinst wieder der Landmann seinen Samen ausstreuen wird und dieser emporkeimt, Ähren tragend und Früchte, dann wird jeder Halm in einem Menschenherzen stehen und jede Ähre in eines Menschen Brust ihre Wurzel haben.'
Als Hepidamus diese Schauung hatte, wagte er es, seinen Schutzgeist zu fragen, wann denn solche schrecklichen Tage hereinbrechen würden. 'Ich war bei all dem Schrecklichen, das ich vernahm, doch begierig zu wissen, wann es sich ereignen würde und ob die Menschheit bald oder vielleicht erst nach vielen Jahrhunderten für jene Tage reif sei. Als ich diese meine Ansicht meinem Schutzgeist äußerte, erwiderte er: 'Keinem Sterblichen wird es gegeben, das Jahr und den Tag zu erfahren, wann das in Erfüllung gehen soll, dessen Verlauf ihm offenbart wurde. Aber ich will dich die Zeichen lehren, die jenen Tagen voraufgehen werden und sie ankündigen wie die herüberkommende Schwalbe die Wiederkehr des Frühlings.'
Als der Genius dies sagte, verschwand plötzlich die weite Fernsicht, welche Bruder Hepidamus gehabt, und als er die Augen erhob gegen die Decke seiner Zelle, erblickte er diese nicht mehr, sondern sah den blauen, sternbedeckten Himmel über sich. Der Geist sagte: 'Schau empor! Erkenne das Sternbild der himmlischen Krone dort mittagwärts von deinem Scheitelpunkte. In dieser Sternenkrone wird ein neues Juwel eingesetzt werden und ein Stern hellglänzend da erscheinen, wo du jetzt nur die unerforschte Bläue des Weltenraumes erblickst.
Wenn dieser Stern als weithin leuchtendes Feuerzeichen erscheinen wird, dann ist die Zeit nahe, wo jene Tage über die Menschheit kommen werden, von denen ich zu dir gesprochen habe. Dann sind die Tage vieler gezählt wie die Tage der Ernte, wenn der Schnitter die Sichel wetzt. Aber die Zeit, wann jenes Zeichen am Himmel erscheinen wird, vorher zu wissen, ist keinem Sterblichen gegeben...'«
»Ein andermal sah Hepidanus sich im Geiste versetzt und erblickte einen unzähligen Schwarm von Gewappneten, welche über den Donaufluß setzten und unter tobendem Geschrei nach Norden zogen. Von der Elbe nahte sich ein anderer Gewalthaufen, wohl ausgerüstet und bewehrt. Inmitten eines großen Gebirgskessels trafen sich beide Heere. Ein furchtbarer Kampf entstand, und ein ungeheure Menge von Toten und Verwundeten fiel auf beiden Seiten. Die Elbe floß gleich einem Blutstrom durch die Gefilde, und ein unaufhörlich rollender Donner lag über der ganzen Gegend.
'Mein Blick verdunkelte sich, meine Sinne schwanden allmählich, und eine Stimme sprach zu mir, dem fast Ohnmächtigen: Du siehst jetzt nichts als Kämpfe, Blut, Schlachten und Tod, aber das Geschlecht der Menschen wird nach diesen Kämpfen herrlicher aufblühen als je zuvor. Allerdings werden sehr viele unter den zu jenen Zeiten Lebenden diese glücklichen Zeiten nicht mehr sehen. Sie werden untergehen unter der Brandfackel des Krieges, und Unkraut wird über ihren Gräbern wuchern. Aber alles dieses wird den Lauf der Welt nicht aufhalten. Mögen sich aber jene, die alsdann leben werden, wohl vorsehen.'«
'Siehe!' sprach er zu mir, 'von Mitternacht gegen Mittag ist heute die Erde getrennt und die Menschen haben sich in zwei Heerlager gespalten gegen Süd und gegen Nord. Und der Norden zieht gegen den Süden als Feind, der Sohn gegen den Vater, und das Unglück folgt ihm über die Berge wie die Nacht dem Tage. Aber es wird bald ein Tag anbrechen, da wird ein Licht aufgehen um Mitternacht im Norden und heller strahlen wie die Mittagssonne des Südens.
Und der Schein der Sonne wird verbleichen vor jenem Lichte. Alsbald aber wird sich eine dunkle Wolke lagern zwischen jenem Licht und der Menschheit, die danach hinblickt. Ein furchtbares Gewitter wird sich aus dieser Wolke bilden. Es wird den dritten Teil der Menschen verzehren, die dann leben werden. Und der dritte Teil aller Saatfelder und Ernten wird zerstört werden. Auch der dritte Teil der Städte und Dörfer, und überall wird große Not und Jammer sein.'«